160 Jahre Kampf der SPD für eine wehrhafte Demokratie

Veröffentlicht am 26.09.2023 in Abteilung

Die Sicherung der Grund- und Menschenrechte vor Ort und international

Christoph Ehmann Vortrag SPD – Krumme Lanke am 12. September 2023 (überarbeitet) Als pdf-download

Am 8. September 1948 sagte Carlo Schmid als Sprecher der SPD-Mitglieder im Parlamentarischen Rat:

„Ich für meinen Teil bin der Meinung, dass es nicht zum Begriff der Demokratie gehört, dass sie selbst die Voraussetzungen für ihre Beseitigung schafft. (…) Man muss auch den Mut zur Intoleranz denen gegenüber aufbringen, die die Demokratie gebrauchen wollen, um sie umzubringen.“

Die SPD hatte während der Weimarer Republik leidvoll erfahren, dass, wenn man die Demokratie auf die Herrschaft des Mehrheitsprinzips reduzierte, es sehr leicht war, die Demokratie in ihrem Wesenskern, den gleichen Rechten für alle, abzuschaffen. Zwar hatten die Organisationen der revolutionären Demokratie-Bewegung, häufig unter dem Sammelbegriff Arbeiterbewegung geführt, obwohl zumindest zunächst überwiegend aus Handwerkern und Dienstboten bestehend, für das allgemeine und gleiche Wahlrecht gekämpft, um überhaupt eine Mehrheit für die Erwähnung der Grund- und Menschenrechte in den Verfassungen zu erreichen. Doch sie hatten auch erfahren, dass Freiheit und Gleichheit zwar gefordert, aber damit noch lange nicht langfristig gesichert werden konnten. Es galt die Grund- und Menschenrechte, aufgeschrieben in der Französischen Revolution von 1789 und aufgenommen in der gescheiterten deutschen Revolution von 1848, zum unveränderlichen Bestandteil in den Ordnungen über das Zusammenleben der Menschen zu machen.

Es war konsequent, dass es im Parlamentarischen Rat ein Sozialdemokrat war, der mit deutlichen Worten darauf drang, dass die zu schaffende Verfassung diese Gefahr deutlich benannte. Es galt, eine wehrhafte, eine streitbare Demokratie zu bauen. Denn dafür stritten Sozialdemokraten schließlich schon seit nahezu drei Generationen. Gegen vielfachen Widerstand. Von allen Seiten.

1862 verkündete Preußen anlässlich der Thronbesteigung von Wilhelm I eine Amnestie für jene, die wegen ihrer aktiven Teilnahme an der 1848er Revolution verurteilt worden waren. So konnte nun auch Wilhelm Liebknecht, der, 1849 zunächst in die Schweiz geflohen, ab 1850 in London Exil gefunden und dort eng mit Marx und Engels kooperiert hatte, seine zwangsweise unterbrochene politische Arbeit in Preußen wieder aufnehmen. Zunächst 1863 engagiert im ADAV ging er, nach seinem Ausschluss 1865 wegen zu großer Nähe zu den Gewerkschaften und seiner Ausweisung aus Preußen, nach Leipzig, wo er gemeinsam mit dem Sattlermeister August Bebel 1866 die Sächsischen Volkspartei gründete.

Wilhelm Liebknecht, 1826 geboren, stammte aus einer hessisch-darmstädtischen Beamtenfamilie. Nach dem Abitur studierte er Geisteswissenschaften in Gießen, Berlin und Marburg und wurde dort Mitglied des Korps Hasso-Nassovia, die noch heute gern einen Scherenschnitt von ihm aus dem Jahre 1847 verbreiten. Doch anders als so manches heutige Parteimitglied erlernte er neben dem Studium zunächst in Gießen das Handwerk des Zimmermanns, danach in Marburg das des Büchsenmachers.

Die „arbeitenden Klasse“ - im Unterschied zur Klasse der Rentiers, Coupon-Schneider und der Kapitalisten, also der „Monopolisten der Werkzeuge der Arbeiter“, wie sie Marx in der Inauguraladresse der Internationalen Arbeiterassoziation 1864 bezeichnet hatte, - war die Trägerin der 48er Revolution gewesen. Ein Beleg dafür findet sich u.a. bei die Berufsangaben zu jenen 270 Toten, die in den Märztagen 1848 in Berlin erschossen worden waren. Es handelte überwiegend um Handwerksgesellen, Meister und Dienstboten. Angesichts der industriellen Rückständigkeit der deutschen Bundesstaaten war die Zahl der Industriearbeiter, zurückhaltend formuliert, überschaubar. Es gehört zu den Tricksereien der Geschichtswissenschaften bis in die 60er Jahre des 20. Jahrhunderts hinein, die 48er Revolution zu einer des liberalen Bürgertums, insbesondere rheinländischer Herkunft, zu machen. Tatsächlich war es aber eben jenes Bürgertum, dass die wenigen errungenen demokratischen Freiheitsrechte nach 1849 sehr rasch zugunsten des Versprechens der politischen Einheit und der damit verbundenen wirtschaftlichen Vorteile ihrer Klasse aufzugeben bereit war.

Wilhelm Liebknecht und August Bebel, die im Laufe der 1860er Jahre zu den anerkannten Sprechern und - nach dem Gothaer Einigungs-Parteitag 1875 - auch zu den gewählten Führern der sozialdemokratischen Partei wurden, hatten nicht vergessen, warum das Organ der Arbeiterbewegung, die „Neue Rheinische Zeitung“, deren Chefredakteur 1848/49 Karl Marx war, sich im Untertitel als „Organ der Demokratie“ bezeichnete.

Während die bürgerlichen Gruppierungen sich auf die politische – und vor allem zolltechnische - kleindeutsche Einheit konzentrierten und sich mit einer konstitutionelle Monarchie und einer eingeschränkten Herrschaft der Landesfürsten zufriedengaben, strebten Bebel, Liebknecht, Vahlteich und viele andere eine demokratische, international offene Gesellschaft an. Deren wichtigster Bestandteil war die Geltung des gleichen Rechts für alle. Es ging ihnen eben nicht um die Herrschaft einer Mehrheit des Volkes, die Ersetzung einer herrschenden Klasse durch eine, wenn auch zahlenmäßig größere Klasse, wenn sie die „Volksherrschaft“ forderten. Im Programm der „Eisenacher“ hieß es deshalb klar und deutlich:

         „Der Kampf für die Befreiung der arbeitenden Klassen ist nicht ein Kampf um          Klassenprivilegien und Vorrechte, sondern um gleiche Rechte und gleiche   Pflichten und für die Abschaffung aller Klassenherrschaft“. (Programm II,2)

Die „Diktatur des Proletariats“ ist eine Erfindung späterer Abspaltungen – denen die Sozialdemokratie zu jeder Zeit, in den 1920er Jahren ebenso wie nach 1945 mit heftigem Widerstand begegnete. Wer Demokratie auf die „Herrschaft der Mehrheit“ reduziert, schafft „Un-Demokratien“ wie das Ungarn Orbans, das Polen der Kaschinski-Partei, eine Erdogan-Türkei oder ein Israel nach den Vorstellungen Netanyahus und seiner orthodoxen Kumpane. Die soziale Demokratie der SPD soll heute und sollte in den 160 Jahren der Parteigeschichte eine andere sein.

Das begann mit der Nationale Frage, der „Deutschen Einheit“, mit der Bismarck dem Bürgertum die Zustimmung zu seiner Politik abkaufte. Bismarck war 1862 preußischer Ministerpräsident von Königs Gnaden und neun Jahre später 1871 Reichskanzler von Gnaden desselben Königs, nun Deutscher Kaiser, geworden.

Die Sozialdemokratie, nachdem sie sich in den ersten Jahren nach ihrer Gründung 1863 in den verschiedenen politischen Bildungs-Vereinen politisch zurecht gerüttelt hatte, war damit nicht zu gewinnen: Sie war international. Wenn es denn schon um die deutsche Einheit ging, dann war sie, nach ein paar Suchbewegungen, eben nicht auf der Seite Bismarcks, wie noch Lassalle und seine Gräfin Hatzfeld oder Johann Baptist von Schweitzer, der den ADAV mittlerweile zu einer „Gurkentruppe“ abgewirtschaftet und den 1866er Krieg Preußens gegen Österreich unterstützt hatte, zu finden. Bebel und Liebknecht und ihre 1869 als Abspaltung vom ADAV gegründete Sozialdemokratische Arbeiterpartei waren von Beginn an „Vaterlandsverräter“ in dem Sinn, dass sie keine Nationalisten, sondern Internationalisten waren. Für sie war der erste Satz in der französischen Erklärung der Menschen- und Bürgerrecht vom 28. August 1789: „Die Menschen sind und bleiben von Geburt an frei und gleich an Rechten“ ein unverrückbares Postulat und von Beginn an der entscheidende Unterschied auch zu den „liberal“ im Namen tragenden national, z.T. auch nationalistisch gesinnten Parteien.

Dass dieses Postulat uneingeschränkt und international für alle Menschen Geltung haben musste, betonte die SPD in der vor allem von August Bebel geführten Debatte um den „verspäteten“ deutschen Kolonialismus seit 1883/84.

Kolonialismus ist Ausbeutung

Ein großer Schritt in die Vergangenheit: Der Große Kurfürst hatte sich in den Jahren 1670/80 um Kolonien, vor allem Stützpunkte für den Sklavenhandel an der Westküste Afrikas bemüht. Spätestens in den 1720er Jahren war dieser Versuch wirtschaftlich gescheitert. Friedrich II hatte auch ein halbes Jahrhundert später kein Interesse an der Kolonialpolitik, wie sie Franzosen und Briten betrieben. Und hundert Jahre später konnte sich auch Bismarck nicht dafür begeistern. Für ihn lagen die „Kolonien“ im Osten Europas.

Bis zum Beginn der 1880er Jahre aus Anlass von Konflikten zwischen den Kolonialmächten England und Frankreich ihn Vertreter der Wirtschaft, vor allem aus Hamburg, das faktisch zu Preußen gehörte, zu mehr Engagement überredeten. Angestoßen durch Leopold II von Belgien, der seine Privatkolonie Kongo gegen andere Interessen abgesichert wissen wollte, lud er vom 15. November 1884 bis zum 26. Februar 1885 zur „Kongo-Konferenz“ nach Berlin ein. Tatsächlich ging es aber nicht nur um den Kongo, sondern um die Aufteilung Gesamt-Afrikas. Wie diese Aufteilung vorgenommen wurde, davon zeugen noch die heutigen Grenzen zwischen zahlreichen afrikanischen Staaten: schnurgerade, mit dem Lineal gezogen. Selbstverständlich ohne Rücksicht auf die betroffenen Völker.

Für die deutsche Politik wurden vor allem die Gebiete in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwest von Bedeutung. In Deutsch-Ostafrika hatte Carl Peters, einschlägig bekannt unter dem Namen „Hänge-Peters“, weil er seine Konkubine und ihren Liebhaber „wegen Untreue“ aufhängen ließ, mit einer „Ostafrikanischen Gesellschaft“ sich einiger Besitzungen bemächtigt, benötigte für diese aber dringend militärischen Schutz vor möglichen Übergriffen der britischen Kolonialmacht. Als es im Januar 1889 im Reichstag um die Finanzierung dieses Schutzes ging, griff Bebel diese Pläne der Reichsregierung scharf an:

         „Wer ist denn diese Ostafrikanische Gesellschaft? Ein kleiner Kreis von          Großkapitalisten, Bankiers, Kaufleuten und Fabrikanten, d.h. ein kleiner Kreis      von sehr reichen Leuten, deren Interessen mit denen des deutschen Volkes gar   nichts zu tun haben... Im Grunde ist das Wesen aller Kolonialpolitik (als) die         Ausbeutung einer fremden Bevölkerung in der höchsten Potenz“.

Fünf Jahre später, als es um die Finanzierung deutscher Postschiffe zu den Kolonien in Afrika und dem Pazifik ging, neigte das Zentrum zur Zustimmung, weil die Kolonialpolitik schließlich auch die Christianisierung der bildungsfernen Eingeborenen und damit ihre Zivilisierung fördere. In seiner Rede vom 17. Februar 1894 hielt ihnen Bebel entgegen:

          „Was bedeutet diese ganze sogenannte christliche Zivilisation in Afrika?    Äußerlich Christentum, innerlich in in Wahrheit Prügelstrafe,         Weibermisshandlung, Schnapspest, Niedermetzelung mit Feuer und Schwert,    mit Säbel und Flinte. Das ist Ihre Kultur. Es handelt sich um ganz gemeine     materielle Interessen, ums Geschäftemachen und nichts weiter.“

Und er tat einen tiefen Griff in die Geschichte, wenn er darauf hinwies, dass die Merowinger, nachdem sich Chlodwig 496 nach einer siegreichen Schlacht bei Zülpich hatte taufen lassen, genauso brutal und „heidnisch“ weiterhin mordeten. Die Taufe ändere die Menschen nicht.

Dass die Kolonialmächte die Zivilisation, hier verstanden als humaner Umgang miteinander, in die eroberten Länder gebracht hätten, meinte auch noch rund 100 Jahre später der ehemaligen französische Präsident Nicolas Sarkozy (2007 - 2012) und forderte deshalb, dies in den Geschichtsbüchern entsprechend zu vermerken.

Bebel sah das sehr anders. Er verteidigte das Recht der durch „Schutztruppen“ unterdrückten Völker zum Aufstand,

         „weil sie dort nichts anderes tun, als ihr Vaterland gegen fremde Eindringlinge      (zu) verteidigen.“

Wegen seiner Verurteilung des Massenmords an den Hereros und Namas in den Jahren 1904ff nannten ihn seine Gegner den „Hottentotten-August“. Wahlen gewinnen konnte man damit Anfang des 19. Jahrhunderts nicht. In den diesem von der Debatte um den Völkermord folgenden sog. „Hottentotten-Wahlen“ 2007 verlor die SPD nahezu über die Hälfte ihrer bisher 81 Sitze, während die Kolonialbefürworter und die Antisemiten 40 Sitze hinzugewannen. Der Verlust war zwar zum einen Teil auf eine die SPD benachteiligende Neueinteilung der Wahlkreise zurückzuführen. Doch eben nur zu einem Teil. Denn der Rassismus, insbesondere in der Form des Antisemitismus, war auch in gutbürgerlichen Kreisen bereits wählbar. Als seinen wichtigsten Gegner identifizierten die Wahlberechtigten - zu Recht - die Sozialdemokraten. Es gab auch in der SPD Antisemiten; sie bekamen jedoch niemals einen nennenswerten Einfluß auf die politischen Entscheidungen der Partei.

In der sozialdemokratischen Geschichtsschreibung spielt die Kolonialpolitik eine auffallend geringe Rolle. In den Broschüren zu den Jahrestagen, etwa 2013, findet sich nicht einmal eine Erwähnung der Haltung zu den deutschen Kolonien. Innerparteilich waren andere Themen umstritten z.B. der Massenstreik oder der Revisionismus Bernsteins.

Bei den „Alt-68-ern“ aber war August Bebel nicht vergessen. Als Heidemarie Wieczorek-Zeul 2004 anläßlich der 100. Wiederkehr der Vernichtungsfeldzug der deutschen „Schutztruppe“ in Namibia um die „Vergebung unserer Schuld“ bat, war sie sich bewusst, dass sie in der antikolonialistischen Tradition August Bebels stand. Für dieses Geschichstbewusstsein wurde sie von dem damaligen grünen Außenminister Joschka Fischer öffentlich abgemahnt, weil eine solches Schuldeingeständnis mögliche Wiedergutmachungsforderungen hervorrufen könnte.

Schließlich begannen begann man dann 2016 doch über eine offizielle Aussöhnung nachzudenken, die der kurzzeitige CDU-Generalsekretär Ruprecht Polenz 2021 nach sechs Jahren Verhandlungen mit dem Entwurf eines Regierungsabkommens zwischen den beiden Ländern abschließen konnte. Doch Anfang 2023, nahezu 120 Jahre nach dem Völkermord, gibt es noch „technische Probleme“ mit der Umsetzung des Abkommens, verlautet aus dem wieder grün-geführten Außenministeriums. Für den im Abkommen vorgesehenen Besuch des Bundespräsidenten ist noch kein Datum festgelegt.

Exkurs: Bebel befürchtete bereits 1900, dass sich die „Gebildeten“ selbst in der Sozialdemokratischen Partei als „Auserwählte der Nation“ verständen und gewissen Aspekten der Kolonialpolitik nicht abgeneigt gegenüberständen. Auch in den großen Hafenstädten wie Hamburg und Bremen war aus Lokalpatriotismus, aber auch aus Angst um Arbeitsplätze nicht jeder Genosse gegen den Kolonialismus der heimischen Kaufleute.

Gleichberechtigung der Frau: Gleichmacherei?

Dem Eintreten für die Gleichberechtigung der Afrikaner nicht unähnlich war die Forderung der SPD nach der rechtlichen Gleichstellung der Frau z.B. hinsichtlich der Mitgliedschaft in politischen Parteien und des Wahlrechts. Weder in der Französischen Revolution 1789 noch in der 1848er-Revolution hatte der Kampf um das Frauenwahlrecht eine Rolle gespielt. In der Reichsverfassung 1871 war es ebenfalls nicht vorgesehen. August Bebels Streitschrift für die Gleichberechtigung der Frauen „Die Frau und der Sozialismus“ kann 1879 in Deutschland nur illegal erscheinen. Sie wird bis zum Ende des Jahrhunderts die „meistgelesenen marxistische“ (so das Deutsche Historische Museum) Veröffentlichung.

Mitglieder in politischen Vereinen konnten sie erst ab1908 werden. Das Wahlrecht für Frauen lehnte der Deutsche Kaiser Wilhelm II, unterstützt von den herrschenden Parteien, während er von den Frauen Opfer während des Krieges forderte, noch in seiner Osteransprache 1917 ab. Es bedurfte erst der totalen Niederlage der Monarchisten und ihrer Begleittruppen, damit dank der Entscheidung des Rats der Volksbeauftragten, dem drei MSPD und drei USPD Vertreter angehörten, im November 1918 Frauen das aktive und passive Wahlrecht zur Nationalversammlung erreichten.

Damit war aber die Gleichberechtigung der Frau noch lange nicht in der in den Folgemonaten von der Nationalversammlung zu erarbeitenden Reichsverfassung abgesichert. Lautstark sprach sich das jüngste Mitglied des Reichstags, die dreißigjährige Zentrumsabgeordnete Christine Teusch gegen ein solches „Extrem der Gleichmacherei“ aus. Doch MSPD, USPD, DDP und die überwiegenden Zahl der Zentrumsabgeordneten hatten eine satte Mehrheit, während die bürgerlichen Parteien DVP, DNVP und Bayernpartei gegen die Verfassung votierten – und während der zwanziger Jahre auch bei ihrer demokratiefeindlichen Haltung blieben. Christine Teusch blieb Reichstagsabgeordnete bis 1933. Nach dem Krieg war sie von 1947 bis 1954 eine sehr einflussreiche Kultusministerin in NRW. Ich habe noch zwei von ihr unterzeichnete Siegerurkunden der Bundesjugendspiele 1953 und 1954. Das war vielleicht ihre beste Tat. Danach war sie nicht mehr Kultusministerin und ich errang nur noch Ehrenurkunden, unterschrieben vom Bundespräsidenten.

Einheitsfront mit der KPD? Niemals!

Hatte die SPD bis zum 1. Weltkrieg vor allem Gegner im monarchistischen und bürgerlichen Lager, so begann schon während des Krieges der „Zwei-Fronten-Krieg“. Während die SPD auf dem Weg zu einem demokratischen Staat die Bevölkerung in ihrer großen Mehrheit mitnehmen wollte, galt für die neuen Gegner, versammelt in der „Spartakusgruppe (ab Nov. 1918 „Spartakusbund“), das Beispiel der russischen, von Lenin geführten Oktoberrevolution: Die Arbeiter und Bauern mussten von der „Vorhut der Arbeiterklasse“ zur Freiheit geführt werden.

Als die militärischen Führer Hindenburg und Ludendorff im August 1918 von einem auf den anderen Tag bemerkten, dass der Krieg nicht mehr zu gewinnen war, forderten sie die MSPD zur Mitverantwortung für den Waffenstillstand auf. Es kam ihnen gar nicht der Gedanke, dass die eigentlichen Initiatoren des Weltkriegs, der Kaiser und seine Anhänger das Kriegsende, die Kapitulation herbeiführen müssten. Wilhelm II lehnte alle Verantwortung ab und setzte sich gemeinsam mit dem Kronprinzen Wilhelm, später ein Anhänger Hitlers, aus dem letzten Quartier des Oberkommandos, des Hotel Britannique in Spa, Belgien – ohne noch einmal in Berlin vorbeizuschauen – direkt zu den Verwandten in die Niederlande ab. Damit entzogen sie sich der Gefangennahme und Verurteilung durch die Sieger.

MSPD und USPD dagegen stellten sich gemeinsam der Übernahme der Regierungsverantwortung bis hin zur Unterzeichnung des „Versailler Diktats“: Es war am 28. Juni 1919 ohne Diskussion zu unterzeichnen. Sonst, so drohten die Sieger, würde der Krieg fortgesetzt. Vor allem war die Aufhebung der Wirtschaftsblockade durch Großbritannien an die Unterzeichnung und Ratifikation gekoppelt. Als angesichts dessen die USPD, die MSPD und das Zentrum die parlamentarische Mehrheit für die Anahme sicherten, feierten sich die bürgerlichen und die rechten Parteien einschl. der liberalen DDP als „konsequente Gegner des Diktatfriedens“. Es war leicht, das nationale Wohl zu fordern, wenn klar war, dass andere schon für die Grundversorgung sorgen würden.

Die USPD löste sich 1922 auf und schloss sich in Teilen der KPD und der SPD an. Nun gab es nur noch zwei „Arbeiterparteien“. Eine dauerhafte Geschichtslüge wurde erfunden, dass eine stabile demokratische Republik hätte entstehen können, wenn die SPD nicht nur, wie in Preußen, mit dem Zentrum, das einen starken sozialpolitischen Flügel hatte, sondern vor allem im Reich mit der KPD koaliert hätte. Tatsächlich hat es zu keinem Zeitpunkt der Jahre vor 1933 eine Bereitschaft auf Seiten der KPD gegeben, eine demokratische, die Grund- und Menschenrechte gegenüber jedem Bürger und jeder Bürgerin achtende Koalition zu bilden. Sämtliche Einheits- oder Volksfrontangebote standen unter der Parole, dass die Stimmen von SPD-Wählern dazu dienen sollte, eine Partei nach bolschewistischem Vorbild zu bilden. Ilka-Sascha Kowalczuk hat in seiner in diesem Jahr vorgelegten tausendseitigen Biografie über Walter Ulbricht materialreich diese durchgängige Position der KPD trotz aller Führungswechsel zwischen 1922 und 1933 anhand vieler Quellen belegt.

Exkurs: Und was war in Thüringen/Sachsen 1923?

 

 

Anfang 1923 plädierte die britische Regierung für eine zeitweise Aussetzung der deutschen Reparationszahlungen. Frankreich widersprach. Da Deutschland seine Reparationszahlungen dennoch reduzierte, besetzte Frankreich das Ruhrgebiet. Daraufhin stellten die Beschäftigten die Produktion ein. Die Reichsregierung zahlte die Gehälter und Löhne weiter, indem sie Geld druckte. Die Inflation erreichte rasant steigende Ausmaße. In Bayern kam es zu Unruhen, ebenso im Rheinland. Die Reichsregierung verfügte das Eingreifen der Reichswehr unter General von Seeckt. Stresemann, von August bis November Reichskanzler mit Unterstützung der SPD, verlangte ein Ermächtigungsgesetz, um Wirtschaftsmaßnahmen ohne Zustimmung des Reichstags ergreifen zu können. Die SPD schied zunächst aus der Regierung aus, stimmte aber eine Woche später dem Gesetz zu. Im Oktober traten der linken SPD-Regierungen in Sachsen und Thüringen die KPD-Fraktionen bei. Angesichts der Unruhen im Ruhrgebiet, Bayern und dem besetzten Rheinladen erschien der KPD, auf einen Hinweis aus Moskau hin, die Situation für eine revolutionäre Machtübernahme günstig.

Zur Durchführung der Erhebung begannen in Sachsen und Thüringen KPD und linke Sozialdemokraten paramilitärische Verbände, die „Proletarischen Hundertschaften“, zu bilden. Darauf rückten am 22. Oktober auf Weisung von Reichswehrminister Geißler Truppen in Sachsen ein und setzen die sächsische Regierung ab. In Thüringen schieden die KPD-Ministern auf Druck der SPD aus der Regierung aus, wodurch ein Einmarsch der Reichswehr verhindert wird. Der in Hamburg versuchte Aufstand, angeführt von Ernst Thälmann, wurde am 23. Oktober durch die Polizei blutig niedergeschlagen.

An allen Aufstandsorten betrieb die KPD gezielt die Mobilisierung eines Teils der SPD-Anhänger unter ihrer Führung gegen die SPD-Verantwortlichen in Berlin. „Einheitsfront“ von unten. Weitere SPD/KPD-Koalitionen gab es in der Weimarer Zeit nicht mehr.

Weiter gegen den „Sozialfaschismus“

Nachdem der NSDAP am 30. Januar 1933 die Macht übergeben worden war, rief die KPD auf der „Ziegenhals-Konferenz“ v. 7. Februar 1933 - Ziegenhals ist ein Ortsteil von Königs-Wusterhausen - zu

         „einem verschärften prinzipiellen Kampf gegen die SPD (auf) mit dem Ziele        der Loslösung der proletarischen Anhängermassen von dieser Partei.... Wir       müssen das Einheitsfront-Gerede der SPD-Führer als infames Betrugsspiel und    Zersetzung der sich anbahnenden antifaschistischen Einheitsfront entlarven.“

Im gleichen Sinne telegrafierte Thälmann am 23. Februar 1933 nach Moskau, dass der Sturz Adolf Hitlers „nur möglich sei, wenn sich SPD und ADGB der KPD unterordnen.“ Gleichzeitig forderte sie ihre Mitglieder auf, als „trojanische Pferde“ in die SA einzutreten.

Während des „Dritten Reiches“ im Widerstand an der Basis zu kooperieren, sollte daher vornehmlich dazu dienen, die SPD-Führung zu isolieren. Diese Position galt während der gesamten NS-Zeit, obwohl 1935 auf der 7. Tagung des Exekutiv-Komitees der Kommunistischen Internationale (EKKI), die vom 25. Juli bis 20. August 1935 in Moskau stattfand, der Vorwurf des Sozialfaschismus“ aufgegeben worden war und die Volksfront nach dem Beispiel Österreichs, Frankreich und Spaniens favorisiert wurde. Allerdings ausdrücklich als „Taktik“, nicht als Veränderung der Grundposition. Faktisch war die Kommunistische Internationale 1935 bereits weitgehend bedeutungslos geworden. In Moskau begannen bald darauf die mit dem Tod von Tausenden in Moskau und außerhalb endenden Stalinschen Prozesse.

Bürgerlicher Fraktionszwang gegen die Demokratie

Als die Macht an Hitler und seine Anhänger am 30. Januar 1933 übertragen worden war, bedurfte es nur wenig mehr als eines Monats, um am 23. März alle bürgerlichen Parteien umfallen zu lassen. Durch die massive physische Bedrohung, die die uniformierten SA-Truppen im Reichstag auf die Abgeordneten ausübten, fühlten sich Liberale wie Theodor Heuss oder Zentrumsabgeordnete wie Christine Teusch verängstigt oder aber durch „Fraktionszwang“ zur Zustimmung zum Ermächtigungsgesetz „gezwungen“. Für das Zentrum warb dessen Vorsitzender Prälat Ludwig Kaas für eine Zustimmung. Anschließend setzte er sich, ohne seine Partei zu informieren, nach Rom ab und beteiligte sich dort an der Ausarbeitung des Reichskonkordats mit dem Vatikan, das im Juli 1933 vereinbart wurde. Er wie auch der auf der Vatikan-Seite an den Verhandlungen beteiligte Kardinal Pacelli, der spätere Pius XII, hofften, ähnlich wie es mit Mussolini in Italien gelungen war, ein Abkommen mit Hitler zum Vorteil der katholischen Kirche schließen zu können. Der ehemalige SPD-Reichstagsabgeordnete Fritz Baade schrieb 1948 in seinen Erinnerungen:

         „Ich entsinne mich, daß Abgeordnete der Zentrumsfraktion […] nach der          Abstimmung weinend zu mir kamen und sagten, sie seien überzeugt gewesen,      dass sie ermordet worden wären, wenn sie nicht für das Ermächtigungsgesetz     gestimmt hätten.“

Von den 120 SPD-Reichstagsabgeordneten saßen einige bereits im Gefängnis, andere waren vor allem ins unter französischer Verwaltung stehende Saarland geflohen. Dass die 94 verbliebenen SPD-Abgeordneten nicht verängstigt waren, erscheint kaum glaubhaft. Sie stimmten trotzdem - geschlossen und ohne Fraktionszwang - gegen die Abschaffung der Demokratie. Fraktionsvorsitzender Otto Wels am 23. März 1933:

         Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht.

Was danach Sozialdemokraten geschehen konnte, selbst wenn sie nicht Reichstagsabgeordnete waren, zeigt ein Beispiel aus der Nachbarschaft. Richard Draemert, ehemals Abgeordneter in der BVV Zehlendorf, wurde im im Juni 1933 als Mitarbeiter der „Welt am Montag“, die als letztes sozialdemokratisches Blatt im Zusammenhang mit der Partei am 22. Juni verboten worden war, arbeitslos. Einen Monat später, am 21. Juli holte ihn die Gestapo am frühen Morgen aus der Wohnung ab und brachte ihn zunächst aufs Polizeipräsidium und danach in „Schutzhaft“ ins Gefängnis Plötzensee. Nach 14 Tagen kam er wieder frei.

Er konnte seine Familie durch den Betrieb eines Kiosks, der auch als „Treffpunkt“ von Genossinnen und Genossen diente, am U-Bahnhof Krumme Lanke unterhalten und - nachdem ihm auch das 1938 verboten wurde – ab 1940 in einer Kohlenhandlung erwerbstätig sein. Am 22. August 1944 wurde er erneut verhaftet und ins KZ Sachsenhausen gebracht. Dort mussten die Gefangenen auf unterschiedlichem Gerölluntergrund Schuhwerk erproben. Er berichtete,

         dass man ihm dort „eiserne Schuhe angezogen hätte und ihn so lange                   marschieren“ ließ, bis er „schließlich kein Fleisch mehr an den Füßen (hatte).       Selbst die Knochen waren abgerieben“.

Immerhin durfte er nach Hause. Als die Familie ihn im Polizeipräsidium abholte, wurde er, so berichtet seine Tochter Charlotte, „total zusammengebrochen, von zwei Polizisten an den Armen herbeigeschleppt.“ Er musste „mit dem Bollerwagen“ vom U-Bahnhof Onkel Toms Hütte abgeholt werden.

Ähnliche Erfahrungen mussten jene nicht machen, die zwar auch „eigentlich dagegen“ waren wie Theodor Heuss oder Christine Teusch, das aber „wegen des Fraktionszwangs“, der offensichtlich höher zu achten war als die Verteidigung der Demokratie, nicht zum Ausdruck bringen konnten.

Nach dem Ende des 2. Weltkrieges herrschte bei vielen Sozialdemokraten der Glaube vor, durch ein Zusammengehen der SPD und der KPD wäre es möglich gewesen, das NS-Regime zu verhindern. Deshalb strebten Genossinnen und Genossen, die sich in Berlin zusammengefunden hatten, mit Otto Grotewohl an der Spitze ein enges Zusammenwirken mit der aus Moskau angereisten „Gruppe Ulbricht“ - er war mittlerweile zum unumstrittenen Sprecher der KPD geworden - an. Weil sie in Berlin saßen, fühlten sie sich als legitime Nachfolger der verbotenen SPD. Kurt Schumacher und Genossinnen und Genossen in den Westzonen waren anderer Auffassung.

Gustav Dahrendorf, von 1924 bis 1933 Schriftleiter des „Hamburger Echo“, 1927 bis 1933 Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft und seit November 1932 auch Reichstagsabgeordneter, war nach dem 20. Juli verhaftet und am 20.Oktober 1944 zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Im Zuchthaus Brandenburg-Goerden hatte er, so berichtet sein Sohn Ralph, von dem im April ermordeten Wilhelm Leuschner“ (1933 Vorstandsmitglied des ADGB) als „letzte Mahnung“ erhalten:        „Schafft mir die Einheit“.

Dahrendorf beteiligte sich denn auch – gegen den erklärten Willen Kurt Schumacher's– einige Monate lang mit Grotewohl und Gniffke in seiner Wohnung im Süntelsteig (Nähe U-Bhf Onkel Toms Hütte) an Überlegungen für einen Zusammenschluss von KPD und SPD.

Doch Ulbricht lehnte zunächst eine gemeinsame „Arbeiterpartei“ ab. Er ließ lediglich am 19. Juni 1945 den Abschluss eines „Aktionsbündnisses“ von KPD und SPD zu. Das hielt aber nicht lange. Denn es zeigte sich schon in diesen ersten Monaten, dass der SPD sehr viel mehr Bürgerinnen und Bürger vertrauen würden als den Stalinisten. So änderte die KPD drei Monate später ihre Taktik und forcierte den raschen Zusammenschluss in dem sie exorbitant begünstigenden Verhältnis 50:50 für die gesamte SBZ und Berlin. Nur so würde der mindere Zuspruch zur KPD zunächst ausgeglichen und später mit Hilfe der sowjetischen Besatzung in eine Mehrheit verwandelt werden können.

Die Mehrheit der Sozialdemokraten in den westlichen Besatzungszonen zeigten an einem Zusammenschluss von Beginn an nur in wenigen Ortsgruppierungen Interesse.

Während der Kampagne zur Einigung in Berlin und der sowjetischen Besatzungszone zeigte sich, dass den sozialdemokratischen Gegnern eines solchen Schritts die unter Stalin erprobten Maßnahmen drohten: Entfernung aus den Ämtern als geringe, Verhaftung als verschärfte, Ermordung – mit oder ohne Gerichtsurteil - als letzte Maßnahme. Stets natürlich ohne Vorankündigung.

Gustav Dahrendorf war nach seiner Befreiung aus dem Zuchthaus Brandenburg-Goerden am 25. April 1945 durch die Rote Armee von der sowjetischen Besatzungsmacht zum Vizepräsident der Deutschen Zentralverwaltung der Brennstoffindustrie für die SBZ bestellt. Obwohl er mit Grotewohl und Gniffke zunächst ein Zusammengehen favorisiert hatte, entwickelte er sich auf Grund seiner jüngsten Erfahrungen mit der KPD-Verwaltung zum Gegner der Vereinigung. Als er dies in einer Abstimmung am 21. Februar für alle sichtbar zum Ausdruck brachte, wurde es für ihn in Berlin gefährlich. Am 22. Februar 1946 entkam er, durch Angehörige der amerikanischen und britischen Verwaltung vorgewarnt, mit seinem Sohn Ralph über den Flughafen Gatow nach Hannover. Wenige Stunden später standen die zur Verhaftung Entsandten Rotarmisten vor dem Haus.

Gewarnt durch die Vielzahl solcher Aktionen entschieden sich die Berliner Genossinnen und Genossen, die in den drei Sektoren durch die westlichen Besatzungsmächte geschützt waren, mit über 80-prozentiger Mehrheit am 31. März 1946 gegen die Vereinigung und gründete sich als Berliner SPD am 7. April 1946 in der Zinnowwald-Schule. Die sowjetische Besatzung Berlins wollte keine Neugründung für Ganz-Berlin anerkennen. Daraufhin drohten die Westmächte, die SED ebenfalls als Neugründung anzusehen und nicht zuzulassen. Das Ergebnis: Beide Parteien wurden in Ganz-Berlin zugelassen. Eine Gemeinsamkeit blieb: Beide Parteien entsandten die in Berlin gewählten Abgeordneten mit nur beratender Stimme in den Bundestag (bis 1990) bzw. die Volkskammer (bis 1957).

Die SPD blieb bis 1961 die einzige gesamt-Berliner Partei mit Büros auch in den Ostbezirken. Diese Kreise waren auch durch Delegierte auf den SPD-Landes- und Bundesparteitagen vertreten. Die Berliner SPD blieb vor allem die stete, zuweilen auch nervige Mahnerin vor einer Anbahnung von Kontakten mit den „Bolschewiken“ im „Osten“.

Selbstverständlich wurde diese SPD in Ost-Berlin im Unterschied zu den Liberalen und Christdemokraten nicht Teil der SED-geführten „Nationalen Front“. Die OST-CDU erklärte bereits 1952 ihre „unverbrüchliche Freundschaft“ mit der SED. Und bekam dafür, wie auch die Liberalen ein paar Posten ab. So durfte die LDPD von 1949 bis 1969 mit Johannes Diekmann und die Ost-CDU mit Gerald Götting von 1969 bis 1976 jeweils den Volkskammerpräsidenten stellen. Nach 1990 konnten diese Parteien das Parteivermögen und die Parteiorganisation in die westdeutschen Bruder- und Schwesterparteien einbringen. Diese hatten gegen ein solche unverhofften Vermögens-Zuwachs von SED-Gnaden keine Einwände, frei nach dem Motto des römischen Kaisers Vespasian (69-79 n.Chr.), der die von ihm eingeführten WC-Gebühren mit dem Hinweis verteidigte: „pecunia non olet“ - Geld stinkt nicht, egal woher es kommt.

„Brandmauern“ gab es seitens „bürgerlicher“ Parteien gegen Kommunisten nicht – zumindest nicht, wenn es was zu verdienen gab.

Die einzige Partei, die von dieser Kungelei nicht profitierte, war die SPD. Sie war in den ostdeutschen Ländern mit der KPD zwangsvereinigt worden und hatte dabei auch ihre Besitzungen in die neue SED einbringen dürfen. Die SPD hatte also nicht nur gegen die Diktaturen vor und nach 1945 gewettert. Sie hatte auch als einzige nicht daran verdient. Gegen soviel Treue zu den Grundsätzen der Partei half nach Auffassung der CDU nur ständige Diffamierung – sei es als „Rote Socken“(nach 1990) oder als Partei, deren Wege alle „nach Moskau“ führten: Ein CDU-Wahlplakat von 1953, das auch der NPD im Wahlkampf 1969 gut gefiel.

Der heutigen Situation (siehe Thüringen) nicht unähnlich war, was sich Ende der 1960er Jahre ereignete. Die SPD hatte das Bündnis mit der CDU in der Großen Koalition unter dem ehemaligen NSDAP-Mitglied Kurt-Georg Kiesinger akzeptiert. In der Beamtenschaft des Bundes und als Bundesminister war während der jahrzehntelangen CDU-geführten Regierung eine ehemalige Mitgliedschaft in nationalsozialistischen Organisationen ohnehin kein Hindernis für Karrieren gewesen. So war nicht ungehörig eine vor allem aus ehemaligen Nazis und neuen Rechtsextremen bestehende Partei, die NPD zu wählen. Der Gründer und langjährige Vorsitzende Adolf von Thadden, geb. am 7. Juli 1921, wurde zum frühest möglichen Zeitpunkt mit 18 Jahren am 1. September 1939 Mitglied der NSDAP. Seine Auftritte z. B. bei Studentenverbindungen mehrten sich.

Die NPD schaffte es zwischen 1966 und 1969 in 7 Landtage. Gewerkschaften, Teile der SPD und andere linke Gruppierungen forderten 1968 ein Verbot. Der CDU-Innenminister Ernst Benda, selbst aus einer NS-geschädigten Familie stammend – der Großvater war Jude - sammelte Material. Doch die CDU lehnte ein von der Bundesregierung einzuleitende Verbotsverfahren ab. Ein Schuft, wer dabei denkt, dass die NPD in die auf den 5. März 1969 vorgezogenen Wahl des Bundespräsidenten 22 Stimmen einbringen konnte. Diese Stimmen wurden gegen den SPD-Kandidaten Gustav Heinemann dringend benötigt, da sich die FDP in der Opposition neu orientiert hatte und einem Zusammengehen mit der SPD nicht abgeneigt war.

Aber man konnte doch nicht das Verbot einer Partei beantragen, auf deren Stimmen man zählte. Tatsächlich stimmten alle NPD-Mitglieder für Gerhard Schröder. Dennoch reichte es nicht, auch nicht im 3. Wahlgang: 512 Stimmen für Gustav Heinemann, 506 Stimmen für Gerhard Schröder.

Auch 2023 in dem kleinen, „gutbürgerlichen“ Bezirk Steglitz-Zehlendorf scheiterte der Versuch, mit Hilfe der AfD eine CDU-Kandidatin ins Bürgermeisteramt zu bringen. Dazu hätte die stellvertretende CDU-Landesvorsitzende Richter-Kotowski 28 Stimmen benötig: 22 der CDU, 4 der FDP und 3 der AfD. Und wie 1969 war es wieder die FDP, dieses Mal die auf Bezirksebene, die der CDU einen Strich durch die Rechnung machte und sich strikt weigerte, mit der AfD zu stimmen. Der Bundes-Vorsitzende Merz fand 2023, wie Gerhard Schröder 1969, mit den gleichen Worten ein Zusammengehe völlig in Ordnung: Schließlich seien die AfD-Leute ja „ordentlich gewählt“ worden.

Womit wir bei Orban in Ungarn und Kaczinski in Polen, bei den mitregierenden „wahren Finnen“ und den rechtsaußen angesiedelten Schwedendemokraten, bei Marie le Pen und bei Georgia Melloni und ihren Fratelli wären. Alle „ordentlich gewählt“. Und alle bereit, die parlamentarische Demokratie mit ihren eigenen Methoden abzuschaffen.

Aber Demokratie heißt eben nicht unbeschränkte Herrschaft der Mehrheit. Es müssen sich alle Schichten und Gruppierungen einer Bevölkerung über ihr Zusammenleben verständigen und Einvernehmen darüber bestehen, dass die Unterdrückung oder Entrechtung einer Gliederung oder eines Andersdenkenden nicht geduldet wird, solange sich alle auf die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, auf die Sicherung der Würde des Menschen verständigen. Freiheit heißt stets die Freiheit des Andersdenkenden. Allerdings nicht im Sinn von Rosa Luxemburg, die diese Gedankenfreiheit in ihrer Schrift „Zur russischen Revolution“, gegen Lenin und die Bolschewiki gerichtet, nur für die russischen revolutionären Parteien und Fraktionen gesichert wissen wollte. Manche Sätze klingen nur gut und akzeptabel, wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen werden. Rosa Luxemburg wollte auf keinen Fall und schon gar nicht Gedanken-Freiheit für „rechte“ Sozialdemokraten oder Liberale.

Die Demokratie ist nur dann eine Demokratie, wenn sie eine streitbare Demokratie ist. So ist sie im Grundgesetz verfasst und so will sie bis zum heutigen Tage auch unser höchstes Gericht, das Bundesverfassungsgericht verstanden wissen.

Wir alle haben es in der Hand, die Verächter unserer Demokratie in die Schranken zu weisen. Und wir alle, jede Politikerin und jeder Politiker, aber eben auch jede Bürgerin und jeder Bürger, wir alle haben eine gemeinsame Verantwortung für unsere Demokratie. Wir müssen sie schützen! Frank-Walter Steinmeier ist in dem Recht zu geben, was er aus Anlass des 75. Jahrestags der Vorlage eines Verfassungsentwurfs durch den Herrenchiemseer Verfassungskonvent am 10. August 2023 mit Worten aus dem Strafrecht deutlich machte:

         „Kein mündiger Wähler kann sich auf mildernde Umstände herausreden, wenn     er sehenden Auges politische Kräfte stärkt, die zur Verrohung unserer    Gesellschaft und zur Aushöhlung der freiheitlichen Demokratie   beitragen.“

Die SPD ist seit 160 Jahren sturmerprobt in ihrem Engagement für eine wehrhafte Demokratie.