Seit 75 Jahren unverändert im Grundgesetz:

Veröffentlicht am 03.05.2024 in Geschichte

„In Stein gemeißelt“. Zwei sozialdemokratische Grundwerte.

Artikel 3 Abs. 2 GG: „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“

Als Elisabeth Selbert (geb. 22.9.1896, gest. 9. Juni 1986 in Kassel) eine der vier Frauen im 65-köpfigen Parlamentarischen Rat, der vom September 1948 bis Ende Mai 1949 das Grundgesetz formulierte, den Antrag stellte, statt der an die Weimarer Verfassung angelehnte Formulierung: „Männer und Frauen haben die gleichen staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten“ die einfache, aber vor allem klare Formulierung „Männer und Frauen sind gleichberechtigt“ in das Grundgesetz zu übernehmen, scheiterte sie grandios. Selbst von den vier Frauen wollten ihr, nach längerem Zögern, nur ihre Genossin Frieda Nadig zustimmen. Sowie die große Mehrheit (!) der SPD.

Die Rechtsanwältin Elisabeth Selbert nahm die Abstimmungsniederlage nicht hin. Sie hatte schon als junge Frau gezeigt, dass sie hartnäckig sein konnte. Da der Besuch eines Gymnasiums an den Einkommensverhältnissen der Eltern scheiterte, bereitete sie sich nach ihrer Heirat mit Adam Selbert und der Geburt zweier Söhne im Selbststudium auf das Abitur vor, dass sie als Externe 1925 an der Luisenschule in Kassel nachholte. Als einzige(!) Frau studierte sie danach an der Universität Marburg Rechts- und Staatswissenschaften. Kurz darauf wechselte sie an die Universität Göttingen, wo sie immerhin auf schon vier Kommilitoninnen traf. Nach sechs Semestern, die damalige Mindeststudiendauer bis zum 1. juristischen Examen, schloss sie ihr Studium 1928 mit Auszeichnung ab. 1930 folgte die Promotion. Thema: „Ehezerrüttung als Scheidungsgrund“. Trotz heftigem Widerstands aus den etablierten Juristenkreisen gelang ihr am 15. Dezember 1934 die Zulassung als Rechtsanwältin. So konnte sie ihre Familie ernähren, denn ihr Mann Adam Selbert war im April 1933 als Sozialdemokrat aus dem Amt gedrängt und für kurze Zeit im KZ Breitenau in „Schutzhaft“ genommen worden.

Nach der Befreiung von der NS-Herrschaft wurde sie 1946 in die Verfassungsberatende Landesversammlung für Groß-Hessen und 1948 für Niedersachsen in den Parlamentarischen Rat gewählt. Als dort die männliche Mehrheit nun die Gleichberechtigung verhindern wollte, mobilisierte sie alle erreichbaren Frauenorganisationen, vor allem auch die Landfrauenverbände in den als konservativ geltenden Regionen. Die Aktivität lohnte sich. Am 14. Januar 1948 beschloss der Parlamentarische Rat ihren Vorschlag.

Mit der Neuformulierung des Gleichberechtigungsgrundsatzes war es ihr darum gegangen, dass viele der damaligen familienrechtlichen Bestimmungen, die noch seit 1896 im Bürgerlichen Gesetzbuch standen, überarbeitet wurden. Gemäß Art. 117 GG sollte diese Überarbeitung bis zum 31. März 1953 geschehen. Die CDU-geführten Mehrheiten im Deutschen Bundestag mussten jedoch erst durch das Bundesverfassungsgericht 1957 zur Verabschiedung des Gleichberechtigungsgesetzes (am 2. Mai 1957) zur wenigstens teilweisen Umsetzung des GG-Auftrages gezwungen werden. Doch das war erst der Anfang. Gleichberechtigung ist bis heute noch nicht erreicht.

Elisabeth Selbert erlebte die Ungleichbehandlung noch an der eigenen Person: 1958 scheiterte die angestrebte Nominierung zur Richterin am Bundesverfassungsgericht. Danach beendete sie ihre politische Karriere. Sie kandidierte auch nicht mehr für den Hessischen Landtag, dem sie von 1946 bis 1958 angehört hatte. Sie arbeitete als auf das Familienrecht spezialisierte Anwältin bis zu ihren 85. Lebensjahr. Sie starb am 9. Juni 1986 als Ehrenbürgerin von Kassel, wo am 21.September 2021 zum 125. Geburtstag eine Bronzestatue von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier enthüllt wurde.

Artikel 102 GG: „Die Todesstrafe ist abgeschafft“.

Kurz und klar. Der einzige Artikel des Grundgesetzes, der nur aus einem Satz, nur aus vier Worten besteht. Unmissverständlich, aber auch ungewöhnlich, weil er sich in der Verfassung und nicht im Strafrecht wiederfindet.

Es war Carlo Schmid und vor allem dem späteren Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts Friedrich-Wilhelm Wagner (SPD) zu danken, dass nach heftigen Debatten am 8. Mai 1949, in der letzten Beratung des Parlamentarischen Rates, der Artikel mit 35 (27 SPD, je 2 der DP, der KPD, des Zentrums und der FDP), zu 30 Stimmen (27 CDU und 3 FDP) als Art 102 ins Grundgesetz aufgenommen wurde. Es war der vierte, dieses Mal erfolgreiche Versuch, die Abschaffung der Todesstrafe in Deutschland durchzusetzen: 1849 in der „Paulskirchenverfassung“ § 139, die zwar verabschiedet wurde, aber schon 1850 ohne weiteren Beschluss außer Kraft gesetzt wurde; 1870 im Entwurf der Verfassung des Norddeutschen Bundes; 1922 im Entwurf eines von Reichsjustizminister Gustav Radbruch eingebrachten Gesetzes, das im Weimarer Reichstag keine Mehrheit fand.

Dass es sich bei der Abschaffung der Todesstrafe nicht um eine Variation im Strafregister eines neuen Strafgesetzbuches, sondern um ein Bekenntnis zu einem anderen Menschenbild („Die Würde des Menschen ist unantastbar“, Art. 1 Abs 1 GG) handeln sollte, machte Carlo Schmid am 8. Mai 1949 deutlich: „Nach all dem, was in dem vergangenen Jahrzehnten in Deutschland und anderswo durch deutsche Blutgerichte geschehen war, sollten wir Deutschen Zeugnis dafür ablegen, dass in allen Menschen, auch im Mörder, das Leben heilig zu halten ist, und dass diesem Postulat gegenüber kriminalpolitische Nützlichkeitserwägungen keine Argumente darstellen.“ Und Friedrich Walter Wagner an die Abgeordneten: „Wenn Sie mit dem Töten von Mensch zu Mensch ein Ende machen wollen, können sie auch nicht dem Staat das Recht geben, Menschen zu töten. Es wird nicht besser, wenn der Staat einem Menschen das Leben nimmt, als wenn es der einzelne nimmt. Es ist, was es war: eine Barbarei.“

Dass sich bei den Befürwortern des Verbots der Todesstrafe auch die Stimmen der Deutschen Partei, des Sammelbeckens ehemaliger NS-Anhänger fanden, ja, dass ihr Sprecher, der spätere Verkehrsminister Seebohm aus eigenem Antrieb am 14. Januar 1949 einen Antrag auf Abschaffung stellte, hatte einen besonderen Grund: Die Nachfolge-Prozesse gegen die Hauptkriegsverbrecher waren 1948/49 noch im Gange und führten in vielen Fällen zu – zuweilen auch vollstreckten – Todesstrafen. Die DP wollte mit ihrer Ablehnung der Todesstrafe die „alten Kameraden“ schützen. Für diese Fälle scheute sie auch nicht die Unterstützung der Sozialdemokraten, Kommunisten, liberalen und katholischen NS-Gegner. Die ehemaligen NS-Juristen, die sich ja keiner Schuld bewusst waren, waren übrigens gegen die Abschaffung.

Die letze Hinrichtung in den Westzonen erfolgte am 14. Februar 1949 in Tübingen, in West-Berlin am 11. Mai 1949. Doch die Befürworter der Todesstrafe ruhten nicht: Bereits am 27. März 1950 beantragte die Bayernpartei im Bundestag die ersatzlose Streichung des Artikels 102. Bis 1958 gab es weitere sechs Versuche, das Rad der Geschichte zurückzudrehen. Zu den bekanntesten Befürwortern gehörten Franz-Josef Strauß, Richard „Kopf-ab“-Jäger und Adolf Süsterhenn, bekannt durch seine „Aktion Saubere Leinwand“. Nach seinem Rücktritt (1963) gesellte sich auch Konrad Adenauer in einem Spiegel-Interview 1964 zu diesem Kreis. In der Verfassung des Landes Hessen wurde ein Verweis auf die Todesstrafe erst 2018 durch eine Volksabstimmung gestrichen.

Friedrich Wilhelm Wagner wurde 1961 zum Vorsitzenden des 2. Senats und zum Vizepräsidenten des Bundesverfassungsgerichts gewählt. Wagner starb am 17. März 1971 in Ludwigshafen.